Der Expertenrat für Klimafragen hat am 3. Juni ein durch die Bundesregierung beauftragtes Sondergutachten zur Prüfung der Projektionsdaten 2024 vorgelegt, welche die zukünftige Entwicklung der Treibhausgasemissionen in Deutschland beschreiben. Anlass für die Beauftragung ist die Novelle des Klimaschutzgesetzes, deren Ausfertigung vom Bundespräsidenten noch aussteht. Das novellierte Klimaschutzgesetz sieht vor, dass der Expertenrat eine Feststellung zur Einhaltung der Summe der Jahresemissionsgesamtmengen in den Jahren 2021 bis einschließlich 2030 trifft.

Prüfung weckt Zweifel an projizierter Zielerreichung

Das im Klimaschutzgesetz vorgegebene Emissionsbudget für den Zeitraum 2021 bis 2030 würde laut den Projektionsdaten 2024 nur sehr knapp eingehalten. Die kumulierten Zielverfehlungen der Sektoren Verkehr und Gebäude würden durch Übererfüllungen in anderen Sektoren, insbesondere der Energiewirtschaft und in geringerem Maße der Industrie, ausgeglichen. Der Expertenrat hat die Projektionsdaten sowohl in Summe als auch sektoral auf Basis eines mehrgliedrigen Prüfschemas im Hinblick auf methodisches Vorgehen, Aktualität und Plausibilität analysiert.

Die Projektion zukünftiger Emissionen ist naturgemäß mit erheblichen Unsicherheiten verbunden. Jedoch werden in den Projektionsdaten keine Angaben zur Wahrscheinlichkeit des ausgewiesenen Emissionspfads gemacht. Für eine zusammenfassende Bewertung der Ergebnisse seiner Prüfung zieht der Expertenrat einen vermuteten Benchmark-Pfad heran, der von allen möglichen zukünftig realisierten Emissionspfaden ebenso wahrscheinlich über- wie unterschritten wird. Insgesamt ist der Expertenrat zu der Einschätzung gelangt, dass ein solcher Benchmark-Pfad oberhalb des Emissionspfads aus den Projektionsdaten 2024 liegen dürfte, und zwar so deutlich, dass – anders als in den Projektionsdaten 2024 festgestellt – nicht von einer Zielerreichung ausgegangen werden sollte.

Hans-Martin Henning, Vorsitzender des Expertenrats, führt aus: „Nach Prüfung der Daten bestätigt der Expertenrat, dass die Gesamtemissionen bis 2030 substanziell sinken werden, allerdings vermutlich weniger stark als in den Projektionsdaten ermittelt. Der Expertenrat hält die projizierten Emissionen in den Sektoren Energie, Gebäude und Verkehr sowie – mit Einschränkungen – auch in der Industrie für unterschätzt.“ Gründe hierfür sieht der Expertenrat unter anderem in aktuellen Entwicklungen, die bei der Erstellung der Projektionsdaten nicht erfasst wurden. Dazu zählen insbesondere die Kürzungen im Klima- und Transformationsfonds, aber auch veränderte Markterwartungen für Gaspreise und CO2-Zertifikatspreise im EU-ETS. Zudem tragen auch methodische Limitierungen zu möglichen Unterschätzungen bei.

Zusammenfassend stellt Henning fest: „In Summe können wir die von den Projektionsdaten 2024 ausgewiesene kumulierte Zielerreichung für die Jahre 2021 bis 2030 nicht bestätigen, sondern gehen im Gegenteil von einer Zielverfehlung aus.“

Zeitnahe Prüfung zusätzlicher klimapolitischer Maßnahmen empfohlen

Laut Novelle des Klimaschutzgesetzes gibt es bei erstmaliger Zielüberschreitung keine unmittelbare Handlungsfolge für die Bundesregierung. Auch die projizierten und vom Expertenrat bestätigten Verfehlungen der Ziele unter der europäischen Lastenteilung ab dem Jahr 2024 und des Ziels von mindestens 65 Prozent Emissionsminderung bis zum Jahr 2030 verpflichten die Bundesregierung nicht zu weiterer klimapolitischer Aktivität. „Vor diesem Hintergrund empfehlen wir, dennoch nicht auf das abermalige Eintreten einer Zielverfehlung zu warten, sondern die zeitnahe Implementierung zusätzlicher Maßnahmen zu prüfen. Dies gilt umso mehr, da wir bei unserer Analyse der Projektionsdaten 2023 bereits letzten Sommer eine solche Zielverfehlung festgestellt haben“, merkt die stellvertretende Vorsitzende, Brigitte Knopf, an und ergänzt: „Der Fokus sollte hier auf den beiden für die europäische Lastenteilung relevanten Sektoren Gebäude und Verkehr liegen, die zudem die größten Zielüberschreitungen aufweisen.“

Auch in der Betrachtung über das Jahr 2030 hinaus sieht der Expertenrat Handlungsbedarf. So würden laut den Projektionsdaten die Ziele im Zeitraum 2031 bis 2040 überschritten und das Ziel der Treibhausgasneutralität würde weder bis zum Jahr 2045 noch bis 2050 erreicht. Zudem würde der Sektor Landnutzung LULUCF laut Projektionsdaten seine im Klimaschutzgesetz festgeschriebenen Ziele weit verfehlen. Statt eine zunehmend ausgeprägte Treibhausgas-Senke zu werden, wäre der Sektor zeitweise sogar eine Quelle. „Insgesamt fehlt für die Zeit nach 2030 eine langfristige Strategie, wie das Ziel der Treibhausgasneutralität erreicht werden kann“, führt Brigitte Knopf weiter aus.

Hinweise zu Anforderungen an Prozess, Governance und Verantwortlichkeiten

Vor dem Hintergrund der hohen Bedeutung, die die Projektionsdaten als neues Auslösekriterium für die Ergreifung zusätzlicher klimapolitischer Maßnahmen gewonnen haben, hat sich der Expertenrat außerdem mit dem Prozess zu deren Erstellung beschäftigt. Aus Sicht des Expertenrats ergeben sich für diesen Prozess neue Anforderungen. Diese betreffen Fragen der Behandlung von Unsicherheiten im Zusammenhang mit Projektionsrechnungen, Aspekte der verwendeten Daten und Modelle sowie den Prozess zur Beauftragung und Erstellung der Projektionsdaten. Bei all diesen Punkten sieht der Expertenrat Verbesserungspotenziale und liefert dazu konkrete Hinweise.

Auch bezüglich der Verantwortlichkeit und Rollen zur Umsetzung des novellierten Klimaschutzgesetzes sieht der Expertenrat Klärungsbedarf. „Da mit der Novelle des Gesetzes die Handlungsverantwortung bei festgestellter Zielverfehlung auf die Bundesregierung als Ganze überführt wird, sehen wir Klärungsbedarf, wer in der Bundesregierung die Federführung innehat“, so Henning. Der Expertenrat empfiehlt der Bundesregierung deshalb, rasch durch Verordnungen zu spezifizieren, wie der Prozess zwischen Feststellung der Notwendigkeit von Maßnahmen und dem entsprechenden Beschluss genau ablaufen soll.

Das Sondergutachten ist hier abrufbar: https://expertenrat-klima.de/publikationen/